#1: Wozu Debatte?
von Randnotiz-Redaktion / Mai 2021
Die Zustände dieser Gesellschaft kann man nicht einfach als „Missstände“ bezeichnen. Die Herrschaftsverhältnisse, die sie konstituieren und die mit Begriffen wie Sexismus, Patriarchat, bürgerliche Gesellschaft, Antisemitismus, Rassismus und Kapitalismus bezeichnet werden, sind der Alltag der uns umgibt. In einer solchen Gesellschaft, in der es nur eine Frage der Zeit ist, bis wieder ein rassistischer Mord verübt wird, der dann selbst bürgerliche Politiker*innen betroffen macht, sind Linke gefordert, auf die Straße zu gehen, aktiv zu sein, sich zu organisieren und politische Kämpfe zu führen. Da ist es doch wohl kaum angebracht, sich ein Buch in die Hand zu nehmen um bei einem Tässchen Tee ins Philosophieren zu kommen. Oder doch?
Neben den gesamtgesellschaftlichen Zumutungen stellt das Leben in der linken Szene vor weitere, spezifische Herausforderungen. Damit sind nicht nur die Gefahren durch staatliche Repression und Angriffe von Neonazis gemeint, sondern erst einmal „nur“ die alltägliche Arbeit. Mehrstündige abendliche Plena, Vor- und Nachbereitung von Demos und Auseinandersetzungen in WG oder Hausprojekt geben sich die Klinke in die Hand. Da ist es kein Wunder, dass der Begriff „Kapazitäten“ zum geflügelten Wort auf linken Plena avanciert ist. Denn diese zusätzlich anfallende Arbeit, die neben den üblichen Horrorveranstaltungen wie Schule, Ausbildung, Studium, Lohnarbeit, und der im hohen Maße feminisierten und unbezahlten Repro- und Care-Arbeit 1 bewältigt werden muss, ist zeitaufwendig, belastend und oft nervenaufreibend. Warum sollte man also in Anbetracht dieser Belastung auch noch politische Debatten führen? Diskutieren und debattieren ist anstrengend. Sie setzen voraus, dass ich mir theoretisches Wissen angeeignet habe, dass ich bereit bin, mich mit ewigen Besserwissern und Dogmatikern rumzuschlagen, und dass ich bereit bin, mich in die Wirren linker Gesellschaftskritik zu begeben, der scheinbaren Ausweglosigkeit der Verhältnisse zum Trotz. Debatte ist aber kein „nice to have“, sondern eine Notwendigkeit. Dies soll hier anhand von drei Aspekten erläutert werden.
Erkenntnis, let’s go
Die eigene politische Meinung bildet sich in einem langwierigen Prozess heraus. In der Debatte wird sie auf den Prüfstand gestellt. Hier treffen verschiedene theoretische und politische Positionen aufeinander. Die eigene Position und die sie begründenden Argumente werden dabei herausgefordert und müssen sich Einwände und Kritik gefallen lassen. Dadurch entsteht die Möglichkeit, Lücken und Unstimmigkeiten in der eigenen Argumentation zu finden, nämlich dann, wenn diese Argumente entkräftet werden oder die Gegenargumente schlüssiger sind. Dies kann dazu führen, dass die eigene Position als falsch erkannt wird und verworfen werden muss. Dies wird oft als Niederlage oder gar als Scheitern empfunden und dementsprechend wird die Debatte vermieden. Diese Sorge vor der Niederlage ist nicht verwunderlich, weil politische Positionen nie einfach nur äußerlich sind, sondern ein Stückweit die eigene Identität konstituieren. The good news is: It’s not a Niederlage. It’s the Erkenntnisprozess.
Es sollte in einer Debatte also nicht darum gehen, die eigene Position um jeden Preis zu verteidigen. Der Reiz einer innerlinken Debatte besteht nicht darin, als Gewinner*in aus einem Wettbewerb hervorzugehen, sondern im gemeinsamen Erkenntnisgewinn, einer fortgesetzten Politisierung. Oliver Schott schreibt dazu in der Jungle World: „Die vernünftige Position ist nicht eine, deren Wahrheit in Stein gemeißelt ist, sondern jene, die Kritik am besten übersteht; in der Praxis sind das Positionen, die überhaupt erst in Reaktion auf und in Auseinandersetzung mit Kritik entwickelt werden – und die angemessen nur vertritt, wer sie prinzipiell als weiterhin kritisierbare, potentiell revisionsbedürftige und widerlegbare behandelt.“2 Damit einher geht ein Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit, was die Grundlage liefern kann für Fehlerfreundlichkeit anderen gegenüber.
Öffentlichkeit herstellen
Die ehemalige feministische, kommunistische Gruppe sub*way aus Göttingen3 kritisiert in ihrer lesenswerten Broschüre die nicht vorhandene Debattenkultur der linken Szene. Sie führt dies auf das „Konzept Szene“ zurück. Die Szene, die sie als Geklüngel durch die Verschmelzung von Politischem und Sozialem verstehen, ersetze die Debatte durch Hinterzimmerpolitik. Statt einer öffentlichen Kritik und Diskussion werde vermeintliches Fehlverhalten durch Gossip sanktioniert: „Es wird nicht miteinander geredet (oder gestritten), sondern übereinander.“4
Eine Debattenkultur ist also ein Mittel zur Herstellung politischer Öffentlichkeit. Dies bedeutet, dass öffentlich geführte linke Debatten auch von Teilen der Bevölkerung mit wenig Berührungspunkten zur linken Szene rezipiert werden können. Es besteht die Hoffnung, dass so eine Vermittlung von politischen Inhalten passieren kann, die zudem der Komplexität von Gesellschaft gerechter wird, als die Parole auf einem Transpi. Daneben hat die Debatte noch eine andere Funktion. Den Autor*innen von sub*way geht es hauptsächlich um die positive Wirkung innerhalb der Szene: „Wir brauchen daher die Debatte. Denn sie ist ein Mittel zur Herstellung politischer Öffentlichkeit und gleichzeitig in der Lage, die progressive Form der Anonymität herzustellen und damit vor Cliquenherrschaft und Gossip zu schützen.“5 Dabei benennen Sie einen wichtigen Punkt. Ein Raum für Debatte bietet auch einen Raum für eine Form öffentlicher Anonymität. Dies kann beispielsweise im Fall von sexualisierten Übergriffen eine wichtige Voraussetzung sein, um feministische Kritik sichtbar zu machen und über einen richtigen Umgang zu streiten.
Linkes Denken muss kritisch sein
Zur Geschichte der Linken gehört ein ordentliches Maß an Herrschaft, Ideologie, Autoritarismus und Konformität. Auch in der linken Szene gibt es diese Phänomene, die einen kritischer Umgang, kritisches Denken notwendig machen. Die Sozialisierung in die Szene hinein beinhaltet die bruchstückhafte Rezeption von Theorien, sowie die Übernahme von Ideologien und Weltanschauungen, welche – zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst – die Ansichten und politischen Strategien der Subjekte prägen. Auch moralische Mindsets schwingen häufig implizit mit, sei es in Impulsen „hauptsache irgendetwas zu machen“ oder in der Annahme, dass man selbst zu den „Guten“ gehöre. In der Debatte besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit, solche impliziten Annahmen explizit zu machen und zu diskutieren. Für einen Szenealltag würde das auch bedeuten, Gruppendynamiken und -zugehörigkeitsgefühlen gegenüber kritisch zu sein und auf die Fähigkeit des Individuums, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, zu setzen. Es würde bedeuten, Räume für Kritik aufzubauen und Kritik wertzuschätzen. Kritik ist so einerseits eine Notwendigkeit, anderseits ein Zeichen, dass man sich gegenseitig wahr- und ernstnimmt. Dass linke Gruppen isoliert vor sich hinarbeiten ohne voneinander mitzubekommen oder miteinander zu arbeiten, kann durch Kritik angegangen werden. Unter diesen Vorzeichen kann ein Zustand entstehen, der gemeinsame Interventionen ermöglicht.
Fazit: Welche Antworten, welche Analysen bringt eine emanzipatorische Politik mit, um den Zuständen dieser Gesellschaft etwas entgegenzusetzen? Gibt es überhaupt eine linke Szene? Was ist das? Wo steht sie? Wie zersplittert ist sie, wie viel Bezugnahme findet gegenseitig statt? Ist sie mehr als ein Vor-Sich-Hinwursteln mit einem minimalen gemeinsamen Konsens, der darin besteht, dass man die ärgsten Schlagwörter, die irgendwie mit Herrschaft zu tun haben, nicht haben will (die aber wiederum jede*r anders versteht)? Eine Debattenkultur bringt da Licht ins Dunkel. Dabei ist notwendig, dass reflektiert wird, welche Stimmen die Debatte dominieren, sei es in ihrer politischen Ausrichtung oder in ihrer Situierung in Herrschaftsverhältnissen. Dies bedeutet nicht, dass die Suche nach einer objektiven Wahrheit aufgeben werden muss und Beiträge unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Ein Debattenraum ist weniger ein Wohlfühlraum, als ein Raum des Streits.5 Trotzdem sind Fehlerfreundlichkeit, konstruktive Kritik und solidarische Bezugnahme, dort wo sie angebracht sind, ganz sinnvolle Angelegenheiten. Preise für narzisstische Selbstbestätigung und Theoriemackertum werden hier nicht vergeben.
[1] Damit sind beispielsweise Hausarbeit, Erziehung und Beziehungspflege gemeint. Siehe https://gender-glossar.de/a/item/84-arbeit
[2] Oliver Schott (2020): Dogmatisch sind immer nur die anderen. dschungel Nr. 46. 12. November 2020
[3] Die Gruppe sub*way hat ungefähr von 2011 bis 2017 existiert. Siehe https://www.subway-online.info
[4] sub*way (2014): Love Feminism. Hate Homophobia. Germany. Capitalism. Pt. 2, S. 3
[5] Über für und wider von Polemik in der politischen/feministischen Auseinandersetzung: Katharina Lux (2018) in Feministisch Streiten. Hrsg. Koschka Linkerhand, S. 292-298.