Relativierung durch Europäisierung

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sorgt nicht nur für eine Zuspitzung des außenpolitischen Engagements der deutschen Bundesregierung, sondern scheint auch eine Aktualisierung der nationalen Geschichtspolitik nach sich zu ziehen. Der ‚Antitotalitarismus‘ wird europäisiert und die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert.

Gastbeitrag von Felix Abderhalden

Die alte Bundesrepublik bezog ihre Legitimation aus der formalen Abgrenzung vom Nationalsozialismus und gleichzeitig aus ihrem Antikommunismus, der insbesondere im Rahmen des Kalten Krieges zur zentralen Motivation wurde, eine Westbindung zur erreichen und der NATO beizutreten. Diese formale Ablehnung des Nationalsozialismus wurde dabei in keinster Weise mit den nötigen Konsequenzen verbunden: Alte Nazi-Eliten wurden in den neuen Staat integriert, Entschädigungsansprüche der Opfer so gut es ging abgekanzelt, juristische Verfolgungen nur mäßig ambitioniert durchgeführt und dabei nicht selten institutionell verzögert bzw. sabotiert. Die Stoßrichtung war klar antikommunistisch ausgerichtet. Die Blockkonfrontation ermöglichte der Bundesrepublik vom eigenen faschistischen Erbe abzulenken und sich selbst in eine Opferrolle über die deutsche Teilung zu begeben. Die Deutung, dass die Rote Armee zusammen mit den Westalliierten Europa vom Joch der Nazis befreit hatte, musste erst in einer Reihe geschichtspolitischer Kämpfe durchgesetzt werden. Diese Anerkennung der Kriegslast und der unzähligen Toten, die die Sowjetunion tragen musste, ist bis heute nicht vollumfänglich abgeschlossen. Ein Denkmal für die von Deutschen ermordeten Sowjetbürger*innen lässt sich in Deutschland bis heute vergeblich suchen. Von Beginn an gab es in der Bundesrepublik Kräfte, die den (Vernichtungs-)Krieg gegen die Sowjetunion vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation relativieren und rehabilitieren wollten. Besonders augenfällig wurde das bei Helmut Kohls Gedenkveranstaltung auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Hier legten der ehemalige Bundeskanzler und US-Präsident Ronald Reagan anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes, Kränze für die Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS nieder. Moishe Postone stellte über die Symbolwirkung der deutsch-amerikanischen Versöhnungsgeste treffend fest, „daß die Streitkräfte des ‚Dritten Reiches’, insofern sie die Rote Armee bekämpft hatten, immer schon Teil des Westens gewesen waren. Die Feierlichkeit zielte […] darauf ab, eine Art rückwirkender Allianz zu symbolisieren“.¹

Mit dem Untergang der Sowjetunion rückte diese Deutung der Geschichte in den Hintergrund. Zwar wurde weiter an einem antitotalitären Geschichtsbild gearbeitet, der Fokus lag jetzt jedoch auf der (innenpolitischen) Aufarbeitung von Nationalsozialismus und DDR. Die Aufarbeitung der „zwei Diktaturen auf deutschem Boden“ sowie das Gedenken an „alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ sind maßgeblicher Teil deutscher Geschichtspolitik. Die Deutschen entwickelten sich zum Aufarbeitungsweltmeister, um in moralisch überhöhender Pose, gleichsam als Experten*innenkollektiv für Völkermord sich nun anzuschicken, der restlichen Welt zu erklären, wie man diese denn entweder verhindert oder angemessen aufarbeitet. Die vorgeblich von den Deutschen gezogenen Lehren wurden außerdem zur außenpolitischen Legitimitation genutzt (selbstverständlich nur dann, wenn es zu den ökonomischen Interessen passte). Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass neben dieser moralischen Selbstüberhöhung der Deutschen, die NS- und Holocuastforschung in der Zeit zwischen den späten 1990er Jahren bis in die späten 2000er Jahre eine Vielzahl wichtiger Studien über die Verschränkung von deutscher Gesellschaft und NS-Verbrechen hervorgebracht hat und die damit einhergehenden Debatten zu einer Zunahme an historisch-politischer Bildungsarbeit geführt haben.


Die Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen von staatsoffizieller Seite war von Beginn an umkämpft. Leugnungen, Relativierungen und Gleichsetzungen gehören dabei bis heute zu Repertoire. Im Zuge des russischen Angriffskriegs drängt nun – noch versteckt unter einer vorgeblichen Ukraine-Solidarität – wieder die oben skizzierte antitotalitäre Deutung des Zweiten Weltkriegs auf den Plan. Zuhauf waren wahlweise „Putin=Hitler“ oder „Putin=Stalin“ Schriftzüge zu sehen. Der imperiale Angriffskrieg der russischen Regierung wurde als „Vernichtungskrieg“ gelabelt. Auch das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow wurde damit beschmiert. In Weimar wurden die roten Sterne des sowjetischen Ehrenfriedhofs in den ukrainischen Nationalfahnen übermalt, in Berlin die Panzer am sowjetischen Ehrenmal in ukrainische Fahnen gehüllt. Diese Form der Umdeutung der Geschichte setzt die multinationale Rote Armee mit „den Russen“ gleich. Die Befreiung Europas von den NationalsozialistInnen durch die Sowjetunion wird mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gleichgesetzt. Ursache und Folge werden vertauscht: Die Rote Armee war – genaue wie alle anderen Alliierten – zwar eine Besatzungsmacht, aber eine, die die Deutschen dazu zwang, Holocaust und Vernichtungskrieg einzustellen. Von dieser Schmach soll sich durch die Gleichsetzung freigemacht werden.

Dementsprechend sind die Gedenkorte der schmerzende Stachel im kollektiven Gedächtnis der Erinnerungsweltmeister, denn sie erinnern an den sowjetischen Beitrag zur totalen militärischen Niederlage. Die Angriffe darauf sind dabei als Entlastungswunsch zu verstehen. Sie erinnern eben daran, dass die Deutschen den zweiten Weltkrieg militärisch nicht gewonnen haben. Sie erinnern daran, dass es das Deutsche Reich war, dass Osteuropa unterjochen wollte und im Rahmen des ‚Generalplan Ost‘ ganze Landstriche zu Gunsten der ‚germanischen Herrenmenschen‘ entvölkern wollte und dabei den millionenfachen Hungertod mit einkalkulierte. Die Gleichsetzung Putins sowohl mit Hitler als auch mit Stalin dient aber noch einem weiterem Zweck: Wurde im Zweiten Weltkrieg gegen Stalin gekämpft, kann jetzt durch den Kampf gegen ‚Putler‘ gewissermaßen ex-post auch der Kampf gegen ein ‚faschistisches Regime‘² nachgeholt werden. Die eigene Schuld kann so abgegolten werden. Eine Paradebeispiel für diesen Entlastungswunsch lieferte der Grünen-Politiker Jürgen Trittin. Er lässt sich in der ZEIT mit den Worten zitieren: „Jetzt erleben wir die Rückkehr des imperialen Eroberungskrieges. Und der ähnelt in vielen Orten dem Vernichtungskrieg von SS und Wehrmacht gegen die Sowjetunion“. ³

Dankbare Impulse für die Schleifung des sowjetischen Erbes erhalten die Deutschen dabei auch von Antikommunist*innen aus Osteuropa. So druckte die Taz zum 9. Mai einen Gastbeitrag der extrem rechten Julia Latynina. In diesem Text verbreitete sie unter anderem die revisionistische Mär, dass Stalin den zweiten Weltkrieg bereits seit den 1920er Jahren plante. Die deutsche Rechte freut’s. Ähnliches ist aus ihrer Feder bereits seit Jahrzehnten zu lesen. Gleichzeitig bricht Latynina in dem Text eine Lanze für die faschistische OUN, ohne auch nur annähernd auf deren Beteiligung am Holocaust einzugehen. In einer Replik versucht Stefan Reinke als Vertreter des linksliberalen Bürgertums die Wogen der Entrüstung über diesen Abdruck wieder zu glätten und verurteilt den Nolt‘schen Geschichtsrevisionismus von Latynina und kritisiert zugleich die „selbstbezügliche Art“ der Deutschen „auf den Holocaust zu blicken“.⁴ Hier wird die Singularität des Holocaust mal wieder infrage gestellt, und stattdessen von Opferkonkurrenzen geredet. Es ist davon auszugehen, dass diese von linksliberaler Seite vorgebrachten Verschiebungen der geschichtspolitischen Agenda auch zu einer Aktualisierung der nationalen Erinnerungspolitik führen werden. Einen Vorgeschmack darauf gab bereits eine Resolution des Europäischen Parlaments mit dem Titel: Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“. In dieser Resolution wird die Schuld am Zweiten Weltkrieg gleichmäßig auf das Deutsche Reich und die Sowjetunion verteilt. Versteckt unter einer „Europäisierung der Erinnerung“ können so endlich differenzierend ‚Verbrechen‘ gegeneinander aufgerechnet werden. In der Konsequenz führt diese Form von Geschichtspolitik dazu, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Singularität des Holocausts nur noch eine Verbrechensgeschichte von vielen anderen darstellen. Die Frage nach Kontinuitäten innerhalb der deutschen Gesellschaft können so ausgeblendet werden und nach und nach unter den Tisch fallen. Stattdessen wird der bereits jetzt nivellierende Terminus des Gedenkens „aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ weiter Auftrieb erhalten. Geschichtspolitik dient so den Deutschen mal wieder zur nationalen Selbstentlastung.


¹ Moishe Postone, Nach dem Holocaust. Geschichte und Identität in Westdeutschland, In: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Barbara Fried, Olaf Kleist, Küßner, Steffen, Sebastian Wehrhahn, u. a. (Hg.), Christine Achinger, Fred Kiefer Übers. von (Freiburg 2005) 59–85, 71; Ähnlich argumentiert auch Mommsen. siehe dazu: Hans Mommsen, Suche nach der „verlorenen Geschichte“?, MERKUR 40, Nr. 451/452 (1986) 868.

² Ob und welche Überschneidungen es zwischen faschistischen Regimen und dem autoritärem Russland gibt, muss an anderer Stelle geklärt werden.

³ ZEIT 18.05.2022: Georg Löwisch: Jürgen Trittin – „Mein Vater stand zu seiner verbrecherischen Vergangenheit“,

⁴ TAZ 09.05.2022: Erinnerungskultur in Russland: Erinnern braucht Dialog