„Hanau war kein Einzelfall“

Zur Hanau-Gedenkdemo sind etwa 800 Menschen in Göttingen auf die Straße gegangen. Sie folgten dem Aufruf des BIPoC-Kollektivs und schlossen sich den Forderungen „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“ an.

Von Conni Lingua

Etwa 800 Personen nahmen an der Hanau-Gedenkdemo in Göttingen teil. Foto: randnotiz

Zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau haben am Samstagnachmittag etwa 800 Menschen in Göttingen demonstriert: „Wir wollen unsere Trauer und unsere Wut auf die Straße bringen“, sagte das BIPoC-Kollektiv, das zur Demo aufgerufen hatte. Die Demonstrierenden schlossen sich den Forderungen „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“ der Initiative 19. Februar an und gedachten den aus rassistischen Motiven ermordeten Personen: Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Der Täter hatte in der Tatnacht außerdem seine Mutter getötet.

Behördenversagen und offene Fragen

Die Demo verlief vom Auditorium über den Hauptbahnhof bis zum Gänseliesel. BIPoCs und migrantische Personen bildeten den ersten Block. „Hanau war kein Einzelfall“, betonte das BIPoC-Kollektiv. Der Anschlag gliedere sich in eine Reihe rechtsextremer Anschläge in der BRD ein, darunter jene in Halle, Mölln und Solingen. Tatursachen seien nicht, wie oft dargestellt, psychische Erkrankungen der Täter, sondern rassistische Strukturen. „Die Täter handeln aus einem gesellschaftlichen Klima heraus“, so die Gruppe redical M. Rassistische Verhältnisse spitzten sich in rechtsextremen Anschlägen zu. Angesichts dessen rief das BIPoC-Kollektiv zur politischen Organisierung auf: „Erinnern heißt verändern und verändern heißt kämpfen“.

Das BIPoC-Kollektiv verurteilte das Versagen von Polizei und Justiz vor, in und nach der Tatnacht in Hanau. Der Notausgang der Shishabar war – mutmaßlich auf Polizeianweisung hin – versperrt, der Notruf nicht erreichbar und 13 SEK-Beamte, die in der Tatnacht im Einsatz waren, hatten sich an rechtsextremen Chatgruppen beteiligt. Angehörige der Ermordeten und Überlebende hatten vor einem Jahr eine „Kette behördlichen Versagens“ angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen jedoch trotz offener Fragen seitens der Initiative 19. Februar im Dezember ein.

Kritik: Gedenken fürs gute Gewissen

Die Jüdische Hochschulgruppe kritisierte, dass der 19. Februar eine „ähnliche schuldentlastende Wirkung bekommt, wie es der 9. November und 27. Januar schon haben“. An diesen Tagen würden Blumen niedergelegt und Demos organisiert, danach aber gingen alltäglicher Rassismus und Antisemitismus weiter.

„Jedes Jahr schreiben wir eine neue Rede. Dann ist das Thema vorbei, wir sehen uns wieder zum nächsten Gedenktag“, sagte die Gruppe. Solidarität sei nicht Teil des Alltags weiß-christlicher Menschen. „Niemand hört den Hinterbliebenen zu, das Versagen des Staates und der Polizei ist schmerzhaft sichtbar“. Hanau sei auch ein antisemitischer Anschlag gewesen.

Teilnehmende legten Blumen und Kerzen am Gänseliesel nieder, um an die aus rassistischen Motiven ermordeten Menschen zu erinnern. Foto: randnotiz

Die Jüdische Hochschulgruppe trug das Gedicht „deutschland im herbst“ der afrodeutschen Dichterin May Ayim vor, in dem diese 1992 antisemitische und rassistische Kontinuitäten in Deutschland beschrieb. Roma-Center und Rojava-Bündnis unterstrichen in ihren Redebeiträgen: Waffenexporte in die Türkei, Abschiebungen von Roma und das Sterben an den EU-Außengrenzen seien Teil eines rassistisch-kapitalistischen Systems.

Schweigeminute am Gänseliesel

Angekommen am Gänseliesel gedachten die Demonstrierenden den Ermordeten mit einer Schweigeminute, Blumen und Kerzen. „Wir wollen den Platz für das Gedenken einnehmen“, so das BIPoC-Kollektiv. Unterdessen versammelten sich etwa 50 Coronaverharmloser*innen zu einer Kundgebung. Eine Teilnehmerin trug ein Schild mit geschichtsrevisionistischer Aufschrift. Gegen die Kundgebung protestierten Teilnehmende der Gedenkdemo mit Sprechchören und Musik.