Antisemitische Mobilmachung
Die Zahl coronaverharmlosender Aufmärsche in Südniedersachsen ist in den letzten Wochen stark angestiegen. Ein Interview mit Damian Ott vom ABAG über Hintergründe und Gegenstrategien.
Von Paul Quappe

„Freie Niedersachsen“ am 10.01.2022 in Göttingen. Foto: Marco Kemp
In letzter Zeit fanden in Göttingen vermehrt coronaverharmlosende Aufmärsche statt. Kannst du kurz einen Überblick über die Aktivitäten der letzten Wochen geben?
Seit Dezember ist die Anzahl an Aufmärschen in der Region, also in Südniedersachen und dem thüringische Eichsfeld, förmlich explodiert. Im Jahr 2020 hatten wir insgesamt 37 rechtsoffene Veranstaltungen dokumentiert. Mittlerweile haben wir bereits für den Zeitraum Dezember 2021 bis heute, also innerhalb von anderthalb Monaten, über 40 solcher Veranstaltungen aufgenommen. Es handelt sich dabei um die größte Mobilmachung mindestens rechtsoffener Akteure hier in der Region seit Langem, wesentlich erfolgreicher als die Versuche des Freundeskreises Thüringen/Niedersachsen, eine durch menschenfeindliche Einstellungen beeinflusste Bürgerbewegung aufzubauen. Auch die Teilnehmer:innenzahlen haben eine steigende Tendenz. Im Eichsfeld sind sie seit längerem dreistellig, in Göttingen teilweise ebenso.
Wer organisiert diese Aufmärsche in Göttingen?
Das ist schwer zu sagen. Ende November 2021 wurden bundesweit Telegramkanäle nach dem Vorbild der Freien Sachsen aufgebaut, so auch der Telegramkanal Freie Niedersachsen. Der Ansatz besteht darin, dass die Freien Niedersachsen eine Art halbanonymen Organisationsmotor darstellen: Einzelpersonen und Gruppen können Veranstaltungshinweise an den zentralen Telegramaccount schicken, die bewerben das dann. Der Zugang ist also sehr niedrigschwellig, es lässt sich nicht sagen, wer für die dort beworbenen Veranstaltungen verantwortlich ist. So ist auch nicht ersichtlich, ob die „Studenten stehen auf“ nach ihrer Veranstaltung im Dezember weiteren Einfluss auf das Geschehen nehmen. Dieses dezentrale Organisationskonzept ist strategisch gewählt. Auch auf den Aufmärschen wird Anonymität ein hoher Stellenwert beigemessen, um die Infektionsschutzmaßnahmen zu umgehen. Beispielsweise hat die AfD Thüringen Rechtshilfetipps für Versammlungen herausgegeben. Darin wird empfohlen, dass sich niemand als Versammlungsverantwortlicher zu erkennen geben solle und der Personalausweis zuhause gelassen werden solle, um die Personalienfeststellung zu verkomplizieren. Ähnliche Aufrufe wurden auch von einem Admin von „Studenten stehen auf“ in die dazugehörige Gruppe gepostet. Die Rechtshilfetipps stammten hier von der Szene-Anwältin Nicole Schneider, die im NSU-Prozess Ralf Wohlleben verteidigt hatte.
Welche Inhalte werden auf den Versammlungen vertreten?
Da auf den Aufmärschen in der Region derzeit keine Redebeiträge gehalten werden, lässt sich dies nur über Umwege herausfinden. Vordergründig scheint es den Teilnehmer:innen hier in der Region zunächst um einen Protest gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu gehen. Aber wie wird diese Ablehnung begründet? Das wird beispielsweise aus hinterlassenen Flyern und Publikationen deutlich. Hier stößt man sehr schnell auf die Behauptung, dass das Coronavirus harmlos sei. Covid-19 sei deshalb keine echte Pandemie, sondern eine Inszenierung, für die eine kleine, mächtigen Elite verantwortlich sei. Bisweilen trifft man da auf das Schlagwort eines „Great Resets“: Die Impfungen werden als Mittel zur Durchsetzung einer „Neuen Weltordnung“ phantasiert. Sie dienten demnach entweder zur Kontrolle der Bevölkerung oder würden gar einen Genozid darstellen.
Von dort aus ist es dann auch nicht mehr weit zum zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Bewegung, der auf den Versammlungen immer wieder vertreten wird: Die Relativierung und Trivialisierung des Nationalsozialismus. Auch in Göttingen kam es zu mehrfach zu Aussagen und Schmierereien, die die 2G-Regelungen mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen. Auf diese Weise können sich die mehrheitlich weiß-deutschen Teilnehmer:innen von der deutschen Vergangenheit freisprechen. Da schwingt ein schuldabwehrender Antisemitismus mit.
Hinsichtlich der bundesweit stattfindenden Demonstrationen wird häufig festgestellt, dass bürgerliche Kreise, Esoteriker:innen und militante Neonazis gemeinsam an den Demonstrationen teilnehmen. Deshalb wird oft von einer hohen ideologischen Heterogenität der Bewegung gesprochen. Seht ihr das genauso?
Wir würden eher sagen dass die Bewegung mittlerweile relativ homogen ist. Der gemeinsame Nenner ist Antisemitismus. Der zeigt natürlich sich in verschiedenen Spielarten, in einem esoterischen Milieu wird der Impfstoff als „Entfernung von der Natur“ verstanden, während neonazistische Akteure in ihrer sozialdarwinistischen Ideologie das Überleben des Stärkeren in der Volksgemeinschaft propagieren und vor diesem Hintergrund die Impfungen ablehnen. Aber über die gemeinsame strukturell antisemitische Schnittmenge, die Pandemie wäre geplant und inszeniert, finden diese Spielarten zusammen. Das sieht man auch an den antisemitischen Gleichsetzungen von Coronapolitiken mit dem Nationalsozialismus. Die werden ja nicht von Nazis begangen, sondern von anderen Teilen der Bewegung.
Welche politische Einstellungen würdest du den Teilnehmer:innen zuschreiben?
Das ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Es wird ja oft gesagt, man dürfe nicht Alle über einen Kamm scheren. Das teilen wir nur bedingt. Natürlich ist es ein Unterschied, ob die Homöopathin Carola Javid-Kistel aus Duderstadt ganz paradigmatisch davon spricht, dass durch die Pandemie (die keine sei) eine neue Weltordnung herbeigeführt werde, oder Margaretha Main, die Vorsitzende des Göttinger Kreisverbandes von Die Basis von der „Volksgemeinschaft“, die „weder rechts noch links“, sondern bunt sei und niemanden ausgrenze. Was wiederum eine andere Argumentation ist, als die der Landtagsabgeordneten Dana Guth (ehemaliges Mitglied der AfD und der Liberal-Konservativen Reformer), die in Herzberg aktiv ist und eher rational argumentiert, wenn sie fordert, dass Schutzmaßnahmen sich auf Testungen konzentrieren sollten, da auch Geimpfte das Virus übertragen können. Aber auch sie umschifft das Thema der Gefährlichkeit der Pandemie, wohl auch um andere Milieus nicht zu verschrecken. Die Teilnehmer:innen sind eben mindestens rechtsoffen. Zum allergrößten Teil werden rechte und extrem rechte Akteure auf den Veranstaltungen akzeptiert. Es mag Teilnehmer:innen geben, die deren Einstellungen nicht teilen, aber da es keinen Widerspruch aus diesen Reihen gegen den strukturellen Antisemitismus gibt, müssen sie sich auch den Vorwurf gefallen lassen, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen.
Wie sieht es mit der Beteiligung organisierter Neonazis hier in der Region aus?
Auch hier in der Region haben extrem rechte Akteure bereits an den Veranstaltungen teilgenommen. Insbesondere die AfD artikuliert ihre Sympathie für die Corona-Leugner:innen und Mitglieder nehmen als „Einzelpersonen“ an den Veranstaltungen teil. Hinsichtlich der subkulturellen Verortung bestehen starke Unterschiede innerhalb der Bewegung. In einigen Städten betreiben organisierte Neonazistrukturen mit den Aufmärschen eine gewisse Bildproduktion, beispielsweise in Braunschweig, Goslar oder Rostock. Diese Ebene findet man hier in der Region zur Zeit nicht. Das heißt natürlich nicht, dass die regionale Szene harmlos wäre, auch hier kam es bereits zu einer Reihe von Übergriffen auf Pressevertreter:innen.
Was haltet ihr von der Analyse, dass diese Aufmärsche eine regressive Reaktion auf die kapitalistische Vergesellschaftung darstellen? Im Krisenfall werden deren latente Spannungen offensichtlich und brechen als Ressentiment gegen die Moderne sich Bahn. Daher die Wissenschafts- und Pressefeindlichkeit, die antisemitischen Verschwörungsmythen, der Hass auf vermeintliche Eliten…
Als Archiv sind wir nicht Diejenigen, die eine derartige gesellschaftstheoretische Position erarbeiten können. Ich persönlich denke, dass die Bewegung ein Versuch ist, aus den Errungenschaften der Moderne auszusteigen. Offensichtlich überfordern die widersprüchlichen Umgangsweisen des Staates mit der Pandemie und die Komplexität des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Es wird teilweise so etwas wie eine „neue Ursprünglichkeit“ gesucht, das kann esoterisch oder faschistisch geframt sein.
Bei den Aufmärschen in Göttingen kam es zu Protesten und Gegenaktionen. Wie bewertet ihr die Gegenaktionen?
Es ist aus meiner Perspektive auf jeden Fall sinnvoll, den Teilnehmer:innen solcher Aufmärsche ein Selbstermächtigungsmoment zu nehmen, beispielsweise durch hör- und sichtbaren Gegenprotest. Dies kann aber nur ein Teil des Umgangs sein. Es gilt auch, in eine inhaltliche Auseinandersetzung mit denjenigen zu gehen, die nicht bereits völlig in Verschwörungsideologie abgedriftet sind und Überzeugungsarbeit der Umstehenden zu leisten. Letztlich müssen progressive Kräfte aber auch erklären können, warum unter diesen gesellschaftlichen Umständen Verschwörungsideologien derart um sich greifen und andererseits linke Gegenentwürfe zum Umgang mit der Pandemie liefern. Und das passiert in Göttingen bisher kaum.
Müsste aus antifaschistischer Perspektive eine Gegenstrategie nicht auch eine Selbstkritik der linken Szene beinhalten? Hat die Suche nach soetwas wie „Ursprünglichkeit“ vielleicht Ähnlichkeit zur Sehnsucht nach Einfachheit und Unmittelbarkeit, die auch in linken Kreisen existiert?
Dazu können wir als Archiv nicht viel sagen. Ich persönlich denke schon, dass die Linke gut daran tut, mehr Zeit in politische Bildungsarbeit zu stecken. Sowohl in Bezug auf sich selbst, als auch mit Bündnispartner:innen. Dass es nur mit einer umfassenden gesellschaftlichen Analyse gelingen kann, der erstarkenden extremen Rechten etwas entgegenzusetzen, liegt auf der Hand.
Zurück zu den Corona-Protesten selbst: Könnt ihr einen Ausblick geben? Was erwartet ihr für die kommenden Monate?
Solange die Pandemie um sich greift wird es wohl erst einmal kein Abflachen der Aktivitäten geben. Für eine Bewegung ist auch wichtig, dass sie sich Bewegungshöhepunkte schafft, also beispielsweise einen größeren Aufmarsch in der Region auf die Beine stellt oder die Aufmärsche anderweitig professionalisiert, wie es in anderen Orten verstärkt passiert. Nicht unterschätzen sollte man außerdem die Gefahr der Radikalisierung. Das können wir in Ansätzen auch hier in der Region erleben. Das Gewaltpotential wird beispielsweise in einem Kommentar auf der Facebook-Seite des Göttinger Kreisverbands von Die Basis deutlich, in dem mit dem Bau von Sprengstoff gedroht wurde. Zudem gab es in Bad Sachsa und Bovenden Hausdurchsuchungen bei Q-Anon-Anhängern. Diese hatten dazu aufgefordert, Politiker:innen und Ärtz:innen zu ermorden. Die Gewaltbereitschaft der Bewegung kann sich schnell steigern, wenn anderweitig keine Erfolge erzielt werden können.
Ein Online-Vortrag des ABAG zur regionalen Coronaleugner:innenszene findet am Dienstag, 25.01.2022, um 17:30 Uhr statt. Anmeldung unter: goettingen@bw-verdi.de
Das ABAG ist das Antifaschistische Bildungszentrum und Archiv Göttingen.