Linksradikaler Block auf 1. Mai-Demo
Ein gemischter Protestzug aus Parteien, Gewerkschaften und linksradikalen Gruppen zog am 1. Mai durch die Göttinger Innenstadt. Die rund 1200 Teilnehmer*innen demonstrierten gegen die Zustände der Arbeitswelt.
Von Paul Quappe

Foto: Links Unten Göttingen
Seit einigen Jahren stellte das Maifest des DGB die einzige Veranstaltung zum 1. Mai in Göttingen dar – linksradikale politische Aktionen gab es hingegen kaum. Dieses Jahr war das anders: Ein linksradikaler Block verband feministische Forderungen und Arbeitskampf mit einer explizit antikapitalistischen Haltung. Organisiert wurde dieser von der FAU Göttingen, A.L.I. und dem Bündnis All Care Workers Unite.
Die Gesamtdemo, an der so verschiedene Gruppen und Organisationen wie die SPD, redical M, Basisgruppe Medizin, IG-Metall, Die Falken und die Grüne Jugend teilnahmen, wurde in Zusammenarbeit mit dem Jugendbündnis des DGB veranstaltet. Der Startpunkt der Demo war der Platz der Synagoge. 10 Uhr begannen hier die ersten Redebeiträge von den Gewerkschaftsjugendorganisationen und dem Solibündnis Rojava. Nach der Erläuterung des Hygienekonzeptes und einer Songperformance vom Dach der OM-10, setzte sich der Demozug in Bewegung, über die Berliner Straße zur Groner Tor Straße in die Innenstadt, wo er am Albaniplatz endete.
Die Redner*innen des linksradikalen Blocks positionierten sich gegen kapitalistische Verwertung und Ausbeutung. Trotz der gerade sehr präsenten Einschränkungen durch die Corona-Maßnahmen könne es nicht darum gehen, ein Zurück zur Vor-Covid-19-Normalität anzustreben. Diese Normalität sei im Kapitalismus nicht nur durch Ausbeutung und Verwertungslogik gekennzeichnet, sondern auch die Entstehung globaler Pandemien könne nur im Zusammenhang mit diesem Gesellschaftssystem verstanden werden. Daher hieß es: „No going back to normal – normal was and still is the problem!“
Vertreter*innen verschiedener Berufsgruppen prägten die Inhalte des linksradikalen Blocks über Redebeiträge oder mittels Performances. Der Fokus lag dabei auf feministischen Kämpfen, da FLINTA*-Personen und Care-Arbeiter*innen besonders von der Covid-19 Pandemie betroffen seien.
Deutlich wurde dies durch Redebeiträge von Kita-Betreuer*innen, Pflegekräften, Kulturschaffenden und Wissenschaftler*innen. Auf der Berliner Straße forderten Kita-Betreuerinnen einen höheren Betreuungsschlüssel sowie mehr Vorbereitungszeit und kritisierten den Gesetzesvorschlag des Kultusministeriums für ein neues KiTa-Gesetz. Dieser würde zu einer Verschlechterung des jetzt schon prekären Betreuungsschlüssels führen.
Danach ging es über die Groner Tor Straße in die Innenstadt. Hier berichtete eine weitere Berufsgruppe, Pflegekräfte ohne deutschen Pass, von den Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern: Schon vor der Pandemie habe hier Personalnotstand geherrscht. Auch Überstunden und Versetzungen seien Alltag. Die aktuellen, massiven Belastungen der Arbeiter*innen lassen sich also nicht nur der Pandemie zuschreiben, so die Rednerin. Sie forderte ein Gesundheits- und Gesellschaftssystem, welches „den Menschen in den Mittelpunkt stellt“.
Der nächste Redner beschrieb, dass er seit vier Jahren als Pflegehelfer für Menschen mit Behinderung arbeitete, jedoch weitaus weniger verdiene als seine deutschen Kolleg*innen, da er keine Möglichkeit zu einer Ausbildung hatte. Er forderte den gleichen Lohn wie seine Kolleg*innen zu bekommen, da er die gleiche Arbeit mache.
Am Gänseliesel kam die Demo zum Stehen, da der nächste Redebeitrag gehalten wurde – wieder von Betreuerinnen einer Kita. Diese hatten an ihrem Arbeitsplatz Mütter zu ihrer Arbeitsbelastung in der Corona-Krise befragt und veröffentlichten jetzt einige der Aussagen. Unter den Befragten gab es Frauen, die berichteten, dass sie seit der Pandemie nicht mehr arbeiten und studieren können, sondern nur noch die Kindererziehung übernehmen würden. Eine weitere Frau beschrieb, dass die dauerhafte Arbeitsbelastung so hoch sei, dass das letzte bisschen persönlicher „Freizeit“ im Musikhören während des Putzens bestehe. Es fehle hier an finanzieller Unterstützung, beispielsweise durch ein Grundeinkommen, sowie an Zusammenhalt und Anerkennung, denn „Jede Sorgearbeit ist systemrelevant!“.
Mit Pyrotechnik und Parolen wie „Kinder, Küche, Vaterland – unsere Antwort: Widerstand!“ bog die Demo dann auf den Wilhelmsplatz ein. Hier folgte eine Performance des Ensembles des deutschen Theaters und der Brigade Futur 3. Diese fragte unter anderem nach der Bedeutung von Solidarität in Zeiten von Social Media. Wenn das Ziel „Solidarität gegenüber der Zukunft“ sei, müsse der Kapitalismus global abgeschafft werden. Ob dazu liken und sharen reicht?
Als die Demonstration schließlich vollständig am Albaniplatz angekommen war, kritisierte der letzte Redebeitrag die prekären Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft: Dauernder Zeitdruck, die Verunmöglichung von kooperativem Arbeiten und befristete Verträge verhinderen kritisches wissenschaftliches Arbeiten. In dekonstruktivistischer Absicht wurden schließlich zwei digitale Endgeräte mit einem innovativen Methodenmix aus Vorschlaghammer und Zimmererhammer bearbeitet. Mit dem Statement „Auch die Privilegierten sind immernoch lohnabhängig!“ löste sich der linksradikale Block auf.
Nach der gemeinsamen Demonstration begann auf dem Albaniplatz das Programm des DGB. Hier wurden in erster Linie die Forderungen des DGB nach einem sozialverträglichem Wohnungsbau und einem Mietenstopp, einem Bildungsektor in öffentlicher Hand und nach einem zuverlässigem Gesundheitssystem gestellt und Investitionen gefordert. Auch Infektionsschutz und Ordnung schaffen auf dem Arbeitsmarkt – „Gute Arbeitsbedingungen für Alle“ – standen auf dem Plan. Die reformistische Arbeitertümelei war spätestens an dem Punkt too much, an dem die Schuld für prekäre Arbeitsbedingungen bei „gierigen“ Investoren gesucht wurde, die dem „anständigen“ Arbeiter gegenüber gestellt wurden. Die meisten Teilnehmenden des linksradikalen Blocks der Demonstration hielt es hier nicht lange.
Parallel dazu gab es Infostände der organisierenden Gruppen, sowie der Roten Hilfe, jungen Welt und der DKP vor dem Roten Zentrum.
Um die Demonstration möglichst „Corona-safe“ zu gestalten, gab es ein Hygienekonzept. Dieses sah neben Maskenpflicht und Abstandsregelungen vor, dass die Demonstration in nummerierte Blöcke aufgeteilt wird. Wenn sich im Nachhinein heraus stellt, dass es in einem Block eine positiv getestete Person sich aufgehalten hat, wird die Nummer des Blocks online veröffentlicht, sodass andere Personen des selben Blocks informiert sind und die Antsteckungsgefahr eingeschätzt werden kann. Zudem konnten Masken und Desinfektionsmittel am Lautsprecherwagen abgeholt werden. Außerdem gab es die Aufforderung, auf der Demonstration keine Flyer und Zeitungen zu verteilen.
Trotz dieser Maßnahmen war der linksradikale Block von einer kraftvollen und teilweise ausgelassenen Stimmung geprägt. Der Block versank öfters in buntem Nebel von Pyrotechnik, es wurde getanzt. Die Polizei hielt sich während der gesamten Veranstaltung im Hintergrund. Im Mittelpunkt standen die Einblicke in die Zustände verschiedene Berufsfelder, die alltagsnah die Situation für Care-Arbeiter*innen und andere prekär Arbeitende schilderten und ihre Forderungen im Kontext einer antikapitalistischen Demonstration zum Ausdruck brachten.