#2: Warum es nicht ausreicht, nur von Frauen zu sprechen
Debattenbeitrag von Jonna und Mo, August 2022
1. Einleitung
Zum 8. März 2022 richteten die Gruppen Redical M und Fancy in Göttingen eine Demonstration
unter dem Titel “Kapitalistisches Patriarchat zerschlagen!” aus. An ihrem dazu veröffentlichen
Aufruf wurde von verschiedenen Personen berechtigterweise Kritik geübt, u.a. über den E-Mail-
Verteiler „Schöner Leben“. Darin ging es v.a. um die alleinige Benennung von Frauen und die
mangelnde Berücksichtigung transgeschlechtlicher und nichtbinärer Lebensrealitiäten. Bereits vor
dem 8. März lieferte die Redical M in einem kürzeren Text über den E-Mail-Verteiler eine
Begründung für die von ihr gewählten Begriffe. Anfang Juli publizierte die Gruppe nun einen
ausführlicheren Text unter dem Titel „Warum wir von Frauen sprechen“, in dem sie auf einige
Kritikpunkte eingehen, ihre Verwendung des Begriffs Frau begründen und eine Kritik am
Queerfeminismus formulieren. Wir begrüßen es, dass die Genoss*innen so ausführlich auf die
Kritik eingehen und die Debatte damit weiterführen. Wir sehen jedoch immer noch einige
Schwachstellen und Unzulänglichkeiten, die wir mit diesem Text benennen möchten. Wir möchten
eine solidarische Kritik üben mit der Hoffnung, dadurch auch mehr Gehör zu finden für
queerfeministische materialistische Analysen.
Unser Debattenbeitrag folgt grob der Struktur des Textes der Redical, indem wir uns zunächst mit
ihrer Argumentation, warum sie von Frauen sprechen, auseinandersetzen und uns danach ihrer
Kritik am Queerfeminismus widmen.
2. Warum es nicht ausreicht, nur von Frauen zu sprechen
In den Abschnitten 2.1 bis 2.5 analysieren die Redicals, wie das kapitalistische Patriarchat
männliche und weibliche Subjekte hervorbringt und Geschlecht naturalisiert. In ihrer
materialistischen Perspektive messen sie der Trennung zwischen abstrakter Arbeit und
Reproduktionstätigkeiten, den Anforderungen, die diese jeweils an die Subjekte stellen, und den
damit einhergehenden Abspaltungen die maßgebliche Bedeutung bei. Diese Analyse teilen wir und
finden diese Abschnitte gelungen. Die Redicals gestehen zudem richtig zu, dass die Zweiteilung in
die beiden gesellschaftlichen Zwangskategorien Mann und Frau nicht bedeutet, dass es nicht auch
nicht-binäre Menschen gibt: „denn was die angesprochenen Menschen aus diesen Anforderungen
machen, also ob sie sich dieser Zweiteilung unterwerfen, ist nicht vorherbestimmt durch die
Analyse: Für uns ist klar, dass queere Identitäten nicht deswegen ihre Bedeutung verlieren, nur weil
der Kapitalismus sich in die zwei Sphären Männlich und Weiblich trennt“ (2.6). Sie nehmen den
Vorschlag an, im Kontext von patriarchaler Gewalt von „Gewalt gegen Frauen und Queers“ zu
sprechen (2.7). In Bezug auf die Organisation der Reproduktion halten sie es jedoch für notwendig,
weiterhin lediglich den Begriff der Frau zu benutzen, da die Gesellschaft die reproduktiven
Aufgaben dem Subjekt Frau übertrage. An späterer Stelle gestehen sie zu, dass davon auch
nichtbinäre Personen betroffen sein können: „Zwar wird auch Reproduktionsarbeit auf Queere
Identitäten abgewälzt oder eben nicht abgewälzt, das passiert aber nicht, weil sie Queer sind,
sondern da sie in dieser Gesellschaft weiterhin in den Kategorien weiblich oder männlich gelesen
werden“ (3.6).
Wenn sich diese Erkenntnis schon durchgesetzt hat, dann fragen wir uns, warum weiterhin an der
ausschließlichen Verwendung des Begriffs Frau in diesem Kontext festgehalten wird, anstatt auch
weitere Betroffenheiten zu nennen. Es ist wichtig, sich den Unterschied zwischen zwei hier
relevanten Ebenen zu vergegenwärtigen: Erstens der Frage, gegen wen sich eine Struktur richtet,
und der zweitens, wer davon betroffen ist. Frauenfeindliche Strukturen, die etwa die Gebärfähigkeit
regulieren oder Frauen die Verantwortung für Reproduktionsarbeit zuweisen, richten sich gegen
Frauen. Nichtbinäre Menschen kommen in den diese Strukturen legitimierenden Ideologien meist
gar nicht vor. Auf der Ebene der Analyse einer allgemeinen Struktur lässt sich somit durchaus
sagen, dass das kapitalistische Patriarchat Frauen die Verantwortung für die Reproduktion zuweist.
Wird aber die zweite Ebene der Betroffenheit betrachtet, wird deutlich, dass hiervon nicht nur
Frauen betroffen sind. Betroffen von Frauenfeindlichkeit sind etwa alle, die so gelesen werden oder
im Falle der Gebärzwang-Politik eben alle gebärfähigen Menschen; in beiden Fällen fallen dann
auch einige nichtbinäre und transmännliche Personen darunter (ein gutes Beispiel für die
Berücksichtigung dieser beiden Ebenen in Bezug auf Femizide findet sich übrigens im
Selbstverständnis der Gruppe KeineMehr Leipzig: https://keinemehrleipzig.noblogs.org/uber-uns/ ).
Wenn reale Menschen angesprochen werden als Subjekte eines feministischen Kampfes, wie das im
Aufruf zum 8. März der Fall war, dann es ist angebracht, die zweite Ebene zu berücksichtigen.
Demnach sollten dann nicht nur Frauen angesprochen werden, sondern eben auch alle weiteren
Menschen, die von den jeweils thematisierten Strukturen betroffen sind. Nicht-binäre Personen und
trans Männer, die eine Erfahrung, etwa der Zuweisung auf die Reproduktionssphäre auch machen,
einfach unter dem Subjekt Frau zusammenzufassen, wäre Misgendering. Das führt dazu, dass diese
sich nicht angesprochen fühlen, wodurch der Versuch, feministische und antikapitalistische Kämpfe
gemeinsam zu führen, scheitern kann. In Abschnitt 2.7 plädiert die Redical für die Verwendung des
Begriffs Frauen mit dem Hinweis darauf, „Menschen anhand ihr konkreten Lebenserfahrung
abholen“ zu wollen. Dies wirkt so, als seien genderqueere Menschen vernachlässigbar und müssten
nicht bei ihrer Lebensrealität abgeholt werden. Es ergibt durchaus Sinn, in einem Demo-Aufruf
alltagssprachlich verständliche Begriffe zu verwenden oder andere Begriffe und Abkürzungen
gegebenenfalls zu erklären, doch das steht nicht im Widerspruch dazu, neben Frauen noch andere
Betroffenheiten zu nennen.
Wir haben dabei leider nicht den einen perfekten Vorschlag für die korrekte Benennung. Sowohl
FLINTA als auch „Frauen und Queers“ oder „Frauen und Genderqueers“ oder „Frauen und
geschlechtliche Minderheiten“ würde auch Menschen einschließen, die nicht im selben Maße von
der Anforderung, sich um Reproduktionsarbeit zu kümmern, betroffen sind. Hier sind
transgeschlechtliche und nichtbinäre Lebensrealitäten zu vielfältig um einfach benennen zu können,
welche Identität von was genau betroffen ist. Trotzdem würden diese etwas schwammigen
Kategorien immerhin alle Betroffenen einschließen, anders als die ausschließliche Verwendung des
Begriffs Frauen.
3. Weitere Anmerkungen zu Reproduktionsarbeit und Queerfeindlichkeit
Über diese Kritik hinaus sind uns in der Analyse der Redicals noch weitere Punkte aufgefallen, die
uns für eine weitergehende Debatte interessant erscheinen, die wir hier jedoch auch nur anreißen
können.
Zum einen wäre bei der Analyse der Reproduktionssphäre auch zu berücksichtigen, welche
weiteren Faktoren neben dem Eingelesen-werden-in-ein-Geschlecht noch dazu beitragen, dass
Menschen auf diese Sphäre verwiesen werden. Denn Reproduktionsarbeit wird in einer konkreten
Situation nicht nur von Menschen übernommen, weil diese dazu auf Basis ihres angenommenen
Geschlechts gedrängt werden, sondern auch auf Basis von ansozialisierten und internalisierten
Verhaltensweisen. Wer Reproduktionsarbeit übernimmt oder auch nicht, hängt auch damit
zusammen, wie sehr ein Mensch im Laufe seines Lebens gelernt hat, sich dafür verantwortlich zu
fühlen (cis Frauen in der Regel deutlich mehr als cis Männer). Bei trans Menschen ist dieses
Verhältnis noch einmal deutlich komplexer, da sich in transgeschlechtlichen Biographien
verschiedene Sozialisationserfahrungen, Identifizierungs- und Desidentifizierungsprozesse in
individuell oft sehr verschiedener Form verschränken. Sozialisation ist zu begreifen als ein
widersprüchlicher Prozess von durch die Gesellschaft gestellten Anforderungen, der Anpassung
daran, aber auch des Widerstands und des aktiven Findens eigener Wege.
Und schließlich greift das Verständnis von Queerfeindlichkeit im Text etwas zu kurz. Die Redicals
begreifen Queerfeindlichkeit als „Resultat von männlicher Gewalt gegen Weiblichkeit“: „Gemeint
ist damit nicht, dass wir von außen sagen würden, dass queere Personen ‚die Weiblichkeit‘
repräsentieren würden, sondern dass in der patriarchalen Logik die Abwertung von allem Nicht-
Männlichem darauf basiert, dass Weiblichkeit abgewertet wird“ (2.5). Dem würden wir zwar
grundsätzlich zustimmen, doch sind nicht alle Formen queerfeindlicher Gewalt aus dieser Logik
erklärbar. Auch wenn queerfeindliche Gewalt überwiegend von Männern ausgeht, gibt es auch
Queerfeindlichkeit, die von Frauen ausgeht (etwa transfeindliche Positionen innerhalb des
Feminismus). Auch diese kann mit Abwertung von Weiblichkeit zu tun haben, muss es aber nicht
zwingend. Was allen Formen von Queerfeindlichkeit gemein ist, ist der Hass auf Uneindeutigkeit
und das Abweichen von etwas, das als Norm konstruiert wird.
4. Zur Kritik des Queerfeminismus
Die zweite Hälfte des Textes der Redicals widmet sich einem „ideologiekritischen Blick auf den
Queerfeminismus“. In der Einleitung in diesen Abschnitt (unter 3.) gestehen sie zwar noch zu:
„Dabei ist klar, dass es streng genommen den einen Queerfeminismus nicht gibt und eine
umfassende Kritik zwischen Queer Theory und queerfeministischem Aktivismus in seinen
verschiedenen Ausprägungen unterscheiden muss“. Dennoch meinen sie „wesentliche
queerfeministische Grundannahmen berücksichtigt“ zu haben und zeichnen dann ein relativ
homogenisierendes Bild des Queerfeminismus. Die dabei genannten Kritikpunkte beziehen sie
weder auf konkrete Beispiele queerfeministischer Praxis oder die Positionen von
queerfeministischen Gruppen noch auf Theoretiker*innen des Queerfeminismus (mit einer Ausnahme unter 3.3 wo sie auf Judith Butler verweisen und deren Position von heutiger queerfeministischer Praxis abgrenzen). Somit arbeiten sie sich mit ihrer Kritik am Queerfeminismus an einem von ihnen selbst hervorgebrachten und überzeichneten Bild davon ab, anstatt sich auf eine spezifische Praxis und konkrete Inhalte, wie sie über den Schöner-Leben Verteiler an sie herangetragen wurden, zu beziehen. Wenngleich wir einige der darin genannten Kritikpunkte an queerfeministischem Aktivismus und queerer Theorie teilen, finden wir insgesamt die Darstellung davon zu vereinfachend. Queerfeminismus wird hier letztlich auf rein identitätspolitische und idealistische Herangehensweisen festgelegt, womit der Eindruck entsteht, eine Vermittlung von materialistischer und queerfeministischer Theorie und Praxis wäre unmöglich. Wir werden im Folgenden auf die konkreten von der Redical genannten Kritikpunkte am Queerfeminismus eingehen und dann noch ein paar Worte zum generellen Verhältnis von Materialismus und Queerfeminismus verlieren.
4.1 Queerfeminismus und die Bedeutung kollektiver Identitäten
Der Queerfeminismus wird von den Redicals ideologiekritisch vor dem Hintergrund des Neoliberalismus betrachtet. Nach dieser Analyse bringt der Neoliberalismus Politikstile hervor, in denen politische Forderungen „aus den vereinzelten Standpunkten formuliert [werden], anstatt ausgehend von Gemeinsamkeiten und entdeckten objektiven Strukturen die eigene Praxis abzuleiten“ (3.1). Von einem solchen Partikularismus gehe auch der Queerfeminismus aus (3.2). Innerhalb der queerfeministischen Bewegung bestimme sich das Individuum „nicht mehr als Teil eines Kollektivs, sondern leitet sein Interesse und Forderungen aus dem Selbstbild ab“ (3.5). Unseren Erfahrungen nach spielen kollektive Identitäten hingegen eine große Rolle in der queerfeministischen Szene. Diese Kollektive sind zwar kleiner gefasst als klassischerweise „die Frauen“ oder „das Proletariat“, aber dadurch können z.B. Forderungen als bzw. aus der Perspektive von etwa trans Frauen, nichtbinären Personen, migrantisierten Queers o.ä. aufgestellt werden. Folglich können durchaus Kollektive formuliert werden, die mit einer Beschreibung ihrer Unterdrückungserfahrungen zu einer differenzierteren Analyse der Macht- und Ausbeutungsstrukturen beitragen und davon ausgehend gemeinsame Ziele zu ihrer Überwindung artikulieren können. Es kann wiederum kritisiert werden, dass dies mitunter auf eine vereinheitlichende Art und Weise passiert, wenn den so konstruierten Kollektiven eine einheitliche Sichtweise unterstellt wird und abweichenden Positionen innerhalb der Zugehörigen eines Kollektivs vorgeworfen wird, die eigene Unterdrückung internalisiert zu haben, anstatt sich inhaltlich mit den divergierenden Positionen auseinanderzusetzen. Darüber Hinaus kann die Kleinteiligkeit dieser Kollektive, wenn sie keine Gemeinsamkeiten mit anderen sucht und die objektive Struktur der Gesellschaft weder erkundet noch sich dagegen organisiert, durchaus kritisiert werden (wie es die Redicals auch tun). Eine alleinige Erklärung dessen aus dem Neoliberalismus ist jedoch verkürzt. Die oben erläuterte Formierung von Kollektiven durch die Betonung der Differenz hat nämlich auch eine berechtigte Wurzel in den Auseinandersetzungen innerhalb der 1. und 2. Welle der Frauenbewegung, in der beispielsweise lesbische und Schwarze Frauen gegen einen weißen und heterosexuellen Mainstream innerhalb der Bewegung die Besonderheit ihrer Unterdrückungserfahrungen thematisieren mussten. Diese Betonung der Differenz kann notwendig sein, um die Postulierung vermeintlich allgemeiner Erfahrungen, die in Wahrheit partikulare sind, zu vermeiden. So wurden beispielsweise im orthodoxen Marxismus die Erfahrungen von männlichen, weißen Industriearbeitern aus dem globalen Norden mit den Erfahrungen aller Menschen innerhalb des Proletariats gleichgesetzt. Ein anderes Beispiel ist die Darstellung der Erfahrungen von weißen, bürgerlichen, heterosexuellen cis Frauen, als die von allen Frauen geteilten Erfahrungen, obwohl diese sich z.B. von denen Schwarzer Frauen unterscheiden können. Solche vermeintlich allgemeingültigen Aussagen oder falschen Universalismen gilt es zu vermeiden und anzugreifen, um daraus neue, wirkliche und gleichzeitig differenzierte Universalismen zu bauen. Auch wenn heute im Neoliberalismus die Betonung der Gemeinsamkeiten und der Verweis auf die Objektivität gesellschaftlicher Strukturen wieder vermehrt in den Fokus gerückt werden sollte, dürfen wir deshalb nicht den Fehler machen, die Betonung der Differenz einfach zu negieren. Vielmehr bedarf eine feministische und kommunistische Politik, die auf universelle Emanzipation aller Menschen strebt, eine nuancierte Betrachtung des Verhältnisses von Differenz und Gemeinsamkeit. Hierbei lässt sich durchaus produktiv an queere Theorie und Politik anknüpfen. Diese entstand in den 1980er Jahren in den USA vor dem Hintergrund der AIDS-Krise als eine Bündnispolitik von unterschiedlichen Außenseiterinnen, die aus der offiziellen Identitätspolitik sowohl des
feministischen, als auch des schwulen Mainstreams ausgeschlossen wurden. Die Bezeichnung
„queer“ war ein Schimpfwort, das unbestimmt alle meinte, die nicht in die moralischen
Wertvorstellungen der Gesellschaft passten. Die damit diffamierte Bewegung eignete es sich als
selbstbewusste Eigenbezeichnung an. In dieser entstandenen queeren Bewegung konnten sich so
unterschiedliche Identitäten und Betroffenheiten, die aber die gemeinsame Erfahrung der Abwertung teilten, wiederfinden. Insofern ist der Vorwurf nicht ganz zutreffend, dass der
Queerfeminismus „die einzelnen Individuen und ihre Identitäten als isoliert voneinander betrachtet
und den eigentlichen Fokus auf das Individuelle und die Emanzipation des Einzelnen hat“ (3.2). Es
stimmt jedoch, dass einige Strömungen innerhalb des heutigen Queerfeminismus die verschiedenen
Individuen und Identitäten häufig einfach in langen Aufzählungen nebeneinander stellen, anstatt ihr
Verhältnis zueinander und ihre Gemeinsamkeiten analytisch herauszuarbeiten.
4.2 Queerfeminismus und Identitätsfindung
In den Abschnitten 3.3 und 3.4 nehmen die Redicals eine weitergehende Kritik der Identität vor. Sie
gestehen zu, dass es in der Queer Theory Judith Butlers noch um eine Dekonstruktion von Identität
ging, kritisieren aber, dass es Queerfeminismus heute um die Bekräftigung von Identitäten geht und
diese den Dreh- und Angelpunkt von queerfeministischem Aktivismus bilden würden. Sie
kritisieren die Kategorie der Identität als eine Anforderung der kapitalistischen Gesellschaft: „Das
zum Teil gute Gefühl, welches mit der Gewissheit kommt, endlich die passende Identität gefunden
zu haben, ist völlig legitim und fühlt sich deshalb so gut an, weil es Resultat der Anpassung der
Subjekte an die Anforderungen der Funktionslogiken dieser Gesellschaft ist“ (3.3). Die
grundsätzliche Identitätskritik, die die Redicals hier vornehmen und die eben auch ein wichtiger
Pfeiler der Queer Theory ist, teilen wir. In dieser Aussage wird jedoch nur der Aspekt der
Anpassung in der Identitätsfindung gesehen. Damit wird vernachlässigt, dass zur Identitätsfindung
in queeren Biographien auch die Auseinandersetzung und Entdeckung der eigenen Bedürfnisse,
Begehren und Wünsche gehört, die zwar auch gesellschaftlich geformt sind, jedoch nie in den
gesellschaftlichen Anforderungen aufgehen. Das gute Gefühl kommt demnach auch aus eben dieser
Entdeckung der eigenen Bedürfnisse, Begehren und Wünsche, die gesellschaftlichen
Anforderungen auch entgegenstehen können. Diese Anforderungen wiederum machen es nötig, dass
jene Entdeckung in der einschränkenden Form einer Identität geschieht, jedoch darf der Inhalt
dieser Form, das von ihr zu Befreiende, auch nicht übersehen werden.
Die Redicals unterstellen dann, dass „Aufgehen in Identitäten“ ein politisches Hauptziel des
Queerfeminismus sei (3.4) und weiter: „Der aktuelle Diskurs, der für alle Menschen eine passende
Identität finden möchte, suggeriert in seiner Definition der Kategorie Frau, dass diese per Geburt
oder per Sozialisation lediglich weibliche Eigenschaften hätten, was wir für falsch halten“ (3.4).
Diese Darstellung wird dem Diskurs um Identität in queerfeministischen Kreisen nicht gerecht. Es stimmt zwar, dass das Finden einer passenden Identität für viele Menschen eine große Rolle spielt
und Identitätslabeln leider auch aufgrund von bestimmten identitätspolitischen Praktiken eine
immer größere politische Bedeutung zugemessen wird. Allerdings streben die meisten
Queerfeminist*innen eine möglichst große Offenheit eben jener Identitätslabel an: Frau-Sein oder Mann-Sein wird nicht mehr an ein bestimmtes Erscheinungsbild oder stereotype Handlungsweisen geknüpft, auch Nicht-Binär-Sein muss nicht mit Androgynität einhergehen. Folglich hat die Tatsache, dass sich manche genderqueeren Menschen nicht von dem Aufruf der Redicals angesprochen fühlten, nichts mit einem beschränkten Verständnis der Kategorie Frau zu tun, sondern mit einer von ihnen anders gewählten Selbstbezeichnung. Insofern weisen wir auch den Vorwurf zurück, die Vorsilbe „cis“ impliziere „eine bruchlose Identifikation mit der Zwangskategorie“ (unter Punkt 4). Das Adjektiv cisgeschlechtlich oder kurz cis bedeutet lediglich, dass jemand nicht transgeschlechtlich ist, sondern sich mehr oder weniger mit dem ihrihm bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert. Das bedeutet nicht, dass diese
Identifikation bruchlos geschieht und die Person sich mit allen damit zugeschriebenen
Eigenschaften identifiziert. Begriffe wie cis halten wir für notwendig, um diese Position benennen
zu können, ohne immer umständllich „Person, die nicht trans ist“ sagen zu müssen.
Es ist jedoch möglich, dass die Vervielfältigung der Identitäten unbewusst mit einer Einschränkung
dessen, was die jeweiligen Identiäten beinhalten können, einhergehen kann. Propagiertes Ziel ist
dies aber höchstens bei einigen Queers, die sich auf Social Media über die genauen Definitionen
von Bi- und Pansexualität streiten und Identitäten damit genau definieren wollen.
Die Konsequenz aus den identitätskritischen Überlegungen, die die Redicals vorschlagen,
Selbstdefinitionen zu akzeptieren, aber die Kategorie Identität an sich zu kritisieren und einen
Umgang zu finden, „der sich des Widerspruchs bewusst ist, dass politische Identitäten bei sozialen
Kämpfen notwendig sind, obwohl diese an sich nicht befreiend sind“ (3.4) teilen wir wiederum.
4.3 Queerfeminismus und Materialismus
Neben den Kritiken am (vermeintlichen) queerfeministischen Verständnis von Identität und
Identitätspolitik ist der Hauptkritikpunkt der Redicals am Queerfeminismus die kulturalistische
Perspektive, der Fokus auf Sprache und die mangelnde Berücksichtigung objektiver materieller
Strukturen, wie etwa der Sphärentrennung in Produktion und Reproduktion, die die materielle
Grundlage der Geschlechterbinarität darstellt. Diese Kritik, sowohl an queerfeministischem
Aktivismus als auch an der akademischen Queer Theory, ist in großen Teilen gerechtfertigt.
Allerdings ist ein materialistischer Queerfeminismus, der queere Theorie und Politik mit
materialistischer Analyse vermittelt, kein Ding der Unmöglichkeit. Zum einen ist das Thema der
Reproduktionsarbeit spätestens mit der Rückkehr größerer Mobilisierungen zum 8. März vor
einigen Jahren sowie durch das Netzwerk Care Revolution auch in queerfeministisch-aktivistischen
Kreisen wieder angekommen. Auf der Ebene der Queer Theory stimmt es zwar, dass sie stark vom
Linguistic Turn beeinflusst ist und sich etwa Judith Butler kaum mit ökonomischen Verhältnissen
beschäftigt. Jedoch betrachtet Butler Geschlecht nicht nur als rein sprachlich konstruiert, sondern
als performativ, also durch Praxis hervorgebracht. Dies kann ein Anknüpfungspunkt sein für einen
dialektischen und historischen Materialismus, für den ebenfalls die menschliche Tätigkeit zentral
ist. So schreibt das Herausgeber*innenkollektiv Kitchen Politics zur Verbindung von queerem und materialistischem Feminismus: „Geschlecht – darin sind sich queerer und materialistischer Feminismus einig – ist nicht natürlich. Geschlecht wird gemacht. Aber dieses ‚machen‘ (doing) – das ist die materialistische Ergänzung – ist zugleich ein ‚arbeiten‘ (working) im engeren Sinn. Es folgt den Anforderungen binärer Arbeitsverhältnisse, die sich in reproduktive und produktive, in Hausarbeit und Außerhausarbeit teilen. […] Insofern Geschlechter- und Arbeitsperformance einander überblenden, kann ein materialistischer Queerfeminismus schlussfolgern, dass die Kritik von Geschlechterverhältnissen auch den Widerstand gegen Arbeitsverhältnisse (und ihre Teilung) mit einschließt. Die Parole Undoing Gender beinhaltet somit zugleich die Aufforderung zur Arbeitsniederlegung: Genderstrike.“ (Kitchen Politics, 2015, S.19f). Ein Zusammendenken von Materialismus bzw. an Marx angelehnter Ökonomiekritik auf der einen und Queerfeminismus bzw. Queer Theory auf der anderen Seite ist also durchaus möglich und es gibt etliche Autorinnen, die dies auf unterschiedliche Weise tun, wie etwa Bini Adamczak,
Friederike Habermann, Heinz-Jürgen Voß, um nur einige zu nennen. Diese Perspektiven
verschwinden in der doch zu einseitigen Darstellung des Queerfeminismus im Text der Redicals.
Wir glauben, dass Queerfeminismus und Queer Theory zum Teil einen besseren Blick für queere
Lebensrealitäten haben als der klassische materialistische Feminismus. Mit ihrer Problematisierung
(was nicht Abwendung heißen muss) des Subjekts Frau haben queerfeministische Theorien den Weg
bereitet für Bündnisse zwischen Frauen- und queeren Bewegungen. Sie bringen durchaus eigene
Probleme mit sich, von denen einige im Text der Redicals zu Recht kritisiert wurden. Vor allem
bedürfen sie einer materialistischen Erweiterung, da nur eine materialistische Analyse es
ermöglichen kann, die Ursachen von Queerfeindlichkeit wie von Frauenfeindlichkeit zu ergründen
und letztendlich das kapitalistische Patriarchat zu zerschlagen.
5. Der 8. März
Zuletzt wollen wir noch einmal auf die konkrete Diskussion um den Aufruf zum 8. März
zurückkehren. Im letzten Abschnitt ihres Textes (4. konkrete Kritkpunkte) argumentieren die
Redicals, dass am 8. März aufgrund seiner Geschichte Frauen im Mittelpunkt des Tages stünden
und dass dies keinen Ausschluss von etwa nichtbinär- und intergeschlechtlichen Personen aus dem
Subjekt des Feminismus bedeute. Auch in einer E-Mail in der Diskussion wurde ähnlich
argumentiert. Wir denken jedoch, dass der 8. März ein politischer Kampftag gegen frauenfeindliche
Strukturen wie die patriarchale Organisation der Reproduktion, die Reglementierung von
Schwangerschaftsabbrüchen etc. ist, von denen eben nicht nur Frauen betroffen sind, wie wir oben
argumentiert haben. Dementsprechend halten wir es für förderlich, neben Frauen noch andere
Betroffenheiten sichtbar zu machen und in den gemeinsamen Kampf einzubinden.
Darüber hinaus stehen die spezifischeren Kämpfe von nichtbinären, trans- und intergeschlechtlichen
Personen vor dem Problem, dass wir eine Minderheit und deshalb auf Bündnisse angewiesen sind,
wenn wir für unsere Belange kämpfen wollen. Da die Kämpfe um geschlechtliche
Selbstbestimmung feministische Kämpfe und als solche eng mit den traditionellen Themen des 8.
März verbunden sind, bietet sich dieser Tag unserer Ansicht nach an, um die Vielfalt der
feministischen Kämpfe zusammenzuführen und gemeinsam zum Ausdruck zu bringen. Damit
werden die anderen feministischen Kämpfe nicht weniger wichtig, vielmehr können wir alle davon
profitieren, wenn wir unsere feministischen Kämpfe zusammenführen und uns darin gegenseitig
stärken.
Die Redicals bemängeln weiter, dass die Kritik am Aufruf lediglich auf Sichtbarmachung und
Begrifflichkeiten ziele. Wir stimmen zu, dass eine Inkludierung transgeschlechtlicher Kämpfe
keineswegs alleine durch die Verwendung einer anderen Begrifflichkeit wie etwa FLINTA gegeben
ist. Eine sprachliche Benennung und Sichtbarmachung in einem Aufruf kann immer nur ein Anfang
sein, aber es wäre eben immerhin ein Anfang. Dass Begrifflichkeiten gänzlich unwichtig sind,
würde wohl auch die Redical nicht behaupten, sonst würden sie keinen Text schreiben, in denen sie
die Verwendung ihrer Begrifflichkeiten so ausführlich begründet. Und viel mehr als eine
Sichtbarmachung kann wohl auch eine Demonstration wie die am 8. März nicht sein, denn das
Patriarchat hat auch sie leider entgegen der Ankündigung im Titel immer noch nicht zerschlagen.
Vielmehr werden hier verschiedene Kämpfe gegen das Patriarchat und ihre Geschichte und die
damit zusammenhängende Analyse sichtbar gemacht und nach außen getragen. Es stimmt, dass
nicht bei jeder feministischen Aktion alle feministischen Kämpfe sichtbar gemacht werden können
und müssen. Aber gerade der 8. März könnte einen solchen verbindenden Charakter haben und
damit gerade durch die Vermittlung der verschiedenen spezifischen Kämpfe auch eine
weitergehende revolutionäre Perspektive auf eine Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und
Patriarchat ermöglichen.
Jonna ist antiautoritäre Kommunistin und außerdem noch trans. Neben queeren Themen beschäftigt sie sich v. a. mit Kritik am Kapitalismus und Möglichkeiten, ihn aufzuheben. Sie ist in der Göttinger CSD-Orga aktiv und nach einigen konstruktiven Gesprächen über die hier aufgeführten Kritikpunkte mittlerweile auch bei der Redical M.
Mo beschäftigt sich u. a. mit rechten Strukturen im Umwelt- und Naturschutz und Asyl & Migration. Gleichzeitig setzt sich Mo mit der Verbindung von intersektionalen und marxistischen Ansätzen auseinander. Mo ist trans und nicht binär.